Persönlichkeit ohne Charakter?
(Beitrag vom , aktualisiert im September 2022
„Wer keinen Charakter hat, ist kein Mensch; er ist nur eine Sache.“ (Nicolas Chamfort)
Das Zitat des französischen Aufklärers und Schriftstellers Nicolas Chamfort ist über 200 Jahre alt. Es scheint, als sei der Charakter heute vollkommen aus der Mode gekommen. Vielmehr stehen flachgeschliffene und auf Hochglanz polierte Persönlichkeiten hoch im Kurs. Statt individueller Menschen und Charaktere mit Ecken und Kanten sucht unsere menschliche Gesellschaft nach Celebrities, konstruierten Personalities, wie man sie massenhaft aus den Medien kennt: „Persönlichkeiten“.
Aber was ist eine Persönlichkeit? DER Standard im Karierehandbuch der Personalleute sind die „Big Five“ – Charaktermerkmale der Psychologie. Solche Merkmale, erforscht die Persönlichkeitspsychologie seit fast hundert Jahren. Letztlich um sie messbar zu machen. Sie bilden heute das Grundgerüst fast aller Persönlichkeitstests die in der Personalauswahl zum Einsatz kommen.
Diese fünf Charakterzüge (Erklärungslinks führen zu Wikipedia) der Big Five sind:

- Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit)
- Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus)
- Extraversion (Geselligkeit; Extravertiertheit)
- Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) und
- Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit)
Im Detail werden diese Eigenschaften dann in verschiedene Merkmale heruntergebrochen und mittels Fragebogen untersucht. Wenn man das liest, dann kann man sich fragen, welche Chance heute ein in seinen Gewohnheiten beständiger, in sich gekehrter, etwas schlampiger Nerd hat, der nicht viel Geschmack an Smalltalk und Networking findet, und den ganzen soziale Kram findet er im Grunde nervig. Ein Mensch, der vielleicht gelernt hat, seine innere Verletzlichkeit mit coolem Auftreten wettzumachen. Ein Nerd vielleicht – aber mit einem unverwechselbaren Charakter. Wird er durch das Raster der Pychotests fallen?
Wenn man Personalwerbung oder Angebote aus der Coaching- und Psycho-Szene anschaut, scheint spielt der Charakter von Menschen überhaupt keine Rolle mehr. Stattdessen „Persönlichkeitsentwicklung“ allerorten. Sollen wir durch allerlei Tricks und Coachings und Trainings aus der Psychokiste zu unglaublich wichtigen Darsteller unserer Selbst werden? Oder steckt dahinter eine Art Programm zur Normierung und Anpassung an wirtschafliche Erfordernisse? Was steckt hinter dem Psychologismus „Persönlichkeit“?
Ursprünglich leitet sich der Begriff – noch als „Persona“ – von Theorien ab, die auf C. G. Jung zurückgehen. Er gewann seine empirischen Erfahrungen in erster Linie mit psychisch labilen Menschen, Insassen im Züricher Universitätsspital, dem Burghölzli. Erst später überführte er seine Erkenntnisse in eine Theorie des Ichs, in der „Persona“ für ein normativ angepasstes, sozial zuträgliches Verhalten des Individuums steht, die äussere Maske, der soziale Schein. Persona – diesen Begriff wählte er (in Abgrenzung zu seinem Konkurrenten Freud) mit Bedacht, denn im antiken Theater war Persona die Maske, die Schauspieler trugen, um ihre Rolle zu symbolisieren. Spätere Psychologen griffen den Begriff auf, versuchten ihn zu operationalisieren und machten daraus, was heute als Persönlichkeit allgemeiner Sprachgebauch geworden ist.
Darstellung nach aussen ist zwar wichtig, aber nicht alles. Der Prozess der sozialen Anpassung wird in den Sozialwissenschaften mit „Sozialisation“ umschrieben, ein lebenslanger Prozess, der durch aktive Teilhabe an der Gesellschaft stattfindet, psychische Reifungsprozesse umfasst, und nur bedingt von aussen zu beeinflussen ist.
Wo ist jetzt der Charakter geblieben bei all der Psychologie? Auf der Strecke, steht zu befürchten. Die Persönlichkeit kleiner Krabbler entwickelt sich schon bald nach der Geburt. Wenn man sie läßt, reifen daraus bis spätestens mit der Volljährigkeit Charaktere. Dann entläßt man junge Menschen ins Leben, hoffentlich ausgestattet mit allem, was sie brauchen, um allein darin zurecht zu kommen. Dieser Prozess entwickelt sich normalerweise von ganz alleine, wenn man ordentlich düngt und gießt, alles in Ruhe sich entwickeln läßt und möglichst wenig herumerzieht. Zu extreme soziale Anpassung geht häufig zu Lasten der Individualität, zu starke Anpassung an soziale Umstände birgt – das wußte schon Jung – Gefahren des Konflikts mit (unbewussten) individuellen Anteilen des Ichs. Sprich: Mit dem Charakter.
Was ist eigentlich geschehen, daß der normale Prozess der Reifung vielen Menschen heute nicht mehr genügt? Menschliche Persönlichkeiten heute sollen sich nach Richard Senett dem Bild des „flexiblen Menschen“anpassen. Das Buch, Bestseller von 1998 trägt den englischen Originaltitel „The Erosion of Character“. Er schreibt kritisch über die Übel des neuen Kapitalismus, mit den Erfahrungen einer entgrenzten Zeiterfahrung, unstrukturierten Atbeitsformen, unkalkulierbaren Risiken und Erfahrungen des Scheiterns. Es ist heute, über zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen, aktuell wie nie. Es ist die Geschiche des Turbokapitalismus, in dem wir heute leben.
Viele Verspechen der gewerblichen Persönlichkeitsentwicklung sind unter diesem Aspekt zu sehen. Sie kommen mir vor, als wolle man das Wachstum einer Pflanze fördern, indem man regelmäßig an ihren Blättern zupft. Wer solche Coaching-Massnahmen für teures Geld durchläuft, oder seine Kinder in teure Internate schickt, legt auf Charakter vermutlich nicht so viel Wert. Es geht um Anerkennung, Personality und Celebrity, also vor allem den äusseren Schein. Eindruck schinden, den Anschein von Individualität und Stärke zeigen, um ordentlich abzusahnen, ansonsten aber möglichst konfliktfrei und charakterlos durchs Leben cruisen.
So funktioniert das Leben aber nicht. Es ist meiner Ansicht nach ein Trugschluß, eine Persönlichkeit entwickeln zu wollen, ohne gleichzeitig am eigenen Charakter zu arbeiten. Entwicklung geschieht nur durch das Leben selbst, nicht durch Coaching und Training. Durch Reibung. Durch Konflikt. Durch Lernen. Durch Misserfolge. Durch Selbstreflexion und durch Scheitern.
Als Coach kann ich dabei nur unterstützen und zur Seite stehen. Wer nicht bereit ist, seine eigenen Konflikte durchzustehen, dem werden Coachings nicht weiterhelfen. Dann kommt aus den Coachings weder Charakter noch Persönlichkeit, sondern die leere Maske.
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